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zu Politik und Recht

Eugen David

Souveräner autonomer Nachvollzug

Eine Einigung mit der EU ist nur möglich, wenn die EU die Unabhängigkeit unserer Institutionen anerkennt. Das erklärte kürzlich Staatssekretär Balzaretti, Chefkoordinator der schweizerischen Europapolitik.

Ideologisch bedient die Aussage den aktuellen Mainstream der schweizerischen Europapolitik in Bundesrat und Parlament. Macht diese Art Kommunikation Sinn? Stärkt sie die Position der Schweiz in den Verhandlungen mit der EU?

CH-Verhandlungsposition: Ideologie statt pragmatischer Realismus

Mit den schweizerischen Institutionen meint Staatssekretär Balzaretti auch den eidgenössischen Gesetzgeber, d.h. Parlament und Volk. Unabhängigkeit in der Gesetzgebung bedeutet, dass die Schweiz autonom eigene Regeln erlassen will, die von den Regeln des europäischen Binnenmarkts abweichen.

Von der EU fordert die Schweiz, dass ihre abweichenden Schweizer Regeln von allen einunddreissig andern am europäischen Binnenmarkt beteiligten Ländern anerkannt werden.

Legt man sich auf diese Verhandlungsposition fest, taucht sofort die Frage auf, welche Folgen sich für den europäischen Binnenmarkt ergeben, wenn alle beteiligten Länder diesen Standpunkt einnehmen.

Die Antwort liegt auf der Hand: der europäische Binnenmarkt würde nicht existieren, weder für Personen, noch für Waren, noch für Dienstleistungen, noch für Finanzen. An allen nationalen Grenzen auf dem Kontinent müssten zur Durchsetzung der unterschiedlichen nationalen Regeln wieder Schlagbäume eingerichtet werden, was Frieden, Freiheit, Beschäftigung und Einkommen der Menschen in Europa massiv beeinträchtigen würde.

Um dies zu vermeiden, haben die westeuropäischen Länder vor 30 Jahren das multilaterale Projekt „Europäischer Binnenmarkt“ gestartet. Das Projekt funktioniert nur, wenn die gemeinsamen Regeln von allen Beteiligten anerkannt werden.

Der ideologische schweizerische Standpunkt, Teilnahme am europäischen Binnenmarkt JA, Anerkennung der gemeinsamen europäischen Binnenmarktregeln NEIN, tönt zwar gut für die Innenpolitik, insbesondere zur Ruhigstellung der Rechtsnationalen, die einen Drittel der Parlamentssitze belegen.

Der Standpunkt leidet aber an einem innern logischen Widerspruch, ist unhaltbar und dementsprechend auch ein Non-Valeur in den Verhandlungen mit der EU. Da nützt die ganze aufgebotene Diplomatie nichts.

Indessen, wie so oft ist die Ideologie das Eine, das praktische politische Handeln aber etwas ganz Anderes.

Autonomer Nachvollzug für die Finanzindustrie

Auf Begehren der Schweizer Finanzindustrie (Banken- und Versicherungen) haben Bundesrat und Parlament im Rahmen der Bilateralen II ein Dienstleistungsabkommen mit der EU zwecks Zugang für Finanzdienstleister zum europäischen Binnenmarkt abgelehnt.

Zentral war damals die Forderung der Finanzplatzakteure, das schweizerische grenzüberschreitende Bankgeheimnis und die autonome schweizerische Finanzplatzgesetzgebung für alle Zukunft zu bewahren. Die Finanzplatzakteure hatten und haben massgebenden Einfluss auf die heimische Gesetzgebung. Das wollte man nicht preisgeben.

In der Zwischenzeit ist das grenzüberschreitende Bankgeheimnis auf Verlangen von G20 und OECD, ohne jede Gegenwehr der Schweiz, gefallen.

Die Finanzplatzgesetzgebung wird mit einem Finanzinstitutsgesetz (Finig) und einem Finanzdienstleistungsgesetz (Fidleg) von Bundesrat und Parlament geräuschlos in den autonomen Nachvollzug überführt. Finig und Fidleg werden die Regeln der Richtlinie 2014/65/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 15. Mai 2014 über Märkte für Finanzinstrumente (MiFiD) vollumfänglich übernehmen.

Finanzdienstleistungen aus der Schweiz für Kunden im europäischen Binnenmarkt können nur erbracht werden, wenn die schweizerische Finanzmarktgesetzgebung den Regeln des europäischen Binnenmarktes folgt.

Ob dies der Fall ist, entscheidet unilateral die EU-Kommission. Die Anerkennung wird periodisch überprüft und kann unilateral entzogen werden. Nachdem die Schweiz vor zwölf Jahren ein Dienstleistungsabkommen abgelehnt hat, besteht kein Rechtsanspruch auf Anerkennung, selbst bei ausgewiesener Äquivalenz der schweizerischen Regeln.

Wundermittel autonomer Nachvollzug

Folge dieser unerfreulichen Lage: Die EU kann jederzeit, auch aus politischen Gründen, die Anerkennung der Äquivalenz des schweizerischen autonomen Nachvollzugs verweigern.

Die Situation ist bereits eingetreten: Trotz ausgewiesener Äquivalenz der CH-Börsengesetzgebung hat die EU-Kommission aus politischen Gründen unilateral im Dezember 2017 den Zugang der Schweizer Börse zum Binnenmarkt auf ein Jahr, bis Ende 2018, befristet.

Im Dezember 2018 will die EU überprüfen, ob die Schweiz bereit ist, ein institutionelles Rahmenabkommen abzuschliessen, das die korrekte Anwendung des europäischen Binnenmarktrechts in der Schweiz gewährleistet, soweit die Schweiz am Binnenmarkt teilnimmt.

Ist dies nicht der Fall wird sie unter Umständen der Schweizer Börse den Binnenmarktzugang unilateral verweigern, obwohl sich die Schweiz im autonomen Nachvollzug der europäischen Börsenregeln grösste Mühe gegeben hat.

Auch in allen andern Bereichen des Binnenmarktzugangs kann im autonomen Nachvollzug jederzeit der Fall eintreten, dass die EU den Zugang von unilateralen Interessen der EU abhängig macht. Die Schweiz ist, ausserhalb der bilateralen Verträge, vollständig vom Goodwill der EU-Organe abhängig.

Das ist indessen selbst gewähltes Schicksal: die Schweiz lehnt im „bilateralen Königsweg, verbunden mit autonomem Nachvollzug“ eine Teilnahme an den EU-Organen (EU-Parlament, Rat, EU-Kommission, EuGH) zur Wahrung ihrer nationalen Interessen ausdrücklich ab, in der irrigen Annahme, damit werde ihre Souveränität gewahrt.

Was heisst autonomer Nachvollzug?

Der Form nach beschliessen Parlament und Volk die Gesetze, der Inhalt besteht aber aus den übernommene Regeln des Europäischen Binnenmarktes. Der autonome Nachvollzug findet regelmässig dort statt, wo ein bilaterales Abkommen CH-EU fehlt.

Die Verfechter des autonomen Nachvollzugs machen mit einigem Zynismus geltend, abstimmungspsychologisch wichtig sei eine stimmige „souveräne Fassade“, was sich dahinter inhaltlich in Realität verbirgt, sei egal. Die Regeln seien inhaltlich sowieso zu komplex.

Die Finanzbranche reklamierte nicht mehr, weil sie im europäischen Binnenmarkt ohnehin die von der EU erlassenen Binnenmarktregeln einhalten muss. Abweichende nationale Regeln produzieren nur höhere Kosten und schaden der Wettbewerbsfähigkeit der schweizerischen Unternehmen. Eine Erkenntnis, die heute – ausserhalb der Landwirtschaft und des Baugewerbes - in allen Branchen verbreitet ist.

Autonomer Nachvollzug im Datenschutz

Ein weiteres Beispiel für den ausufernden autonomen Nachvollzug ist die aktuell laufende Revision der schweizerischen Datenschutzgesetzgebung.

Am 24. Mai 2016 trat die neue europäische Datenschutzverordnung in Kraft [Verordnung (EU) 2016/679 des europäischen Parlaments und des Rates vom 27. April 2016 zum Schutz natürlicher Personen bei der Verarbeitung personenbezogener Daten, zum freien Datenverkehr und zur Aufhebung der Richtlinie 95/46/EG]. Da die Schweiz weder im europäischen Parlament noch im Rat vertreten ist, hatte sie zu diesem Regelwerk nichts zu sagen.

Ab dem 25. Mai 2018 sind die Regeln in allen EU-Mitgliedstaaten für jedermann direkt anwendbar. Unternehmen, die gegen die neue Verordnung verstossen, können ab diesem Zeitpunkt mit einer Geldbusse von bis zu 20 Millionen Euro oder bis zu 4% des weltweiten Umsatzes belegt werden.

Die Regeln wirken für die schweizerischen Unternehmen direkt bereits ab dem 25. Mai 2018, wann immer sie für EU-Bürger mit einem Produkt oder einer Dienstleistung auftreten – und sei es auch nur Online.

In der Schweiz kommt die „souveräne Fassade“ im autonomen Nachvollzug mit Verspätung. Der bundesrätliche Gesetzesentwurf für den autonomen Nachvollzug des Datenschutzes befindet sich erst in der parlamentarischen Beratung. Am 25. Januar 2017 hatte die Europäische Kommission den Bundesrat informiert, dass die neue Verordnung nach der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs auch für die Schweiz relevant ist. Daraufhin hat der Bundesrat den autonomen Nachvollzug zwecks Übernahme des EU-Rechts in Angriff genommen und beantragt dem Parlament die Anpassung von insgesamt 77 schweizerischen Gesetzen.

Position des Bundesrates

Der Bundesrat schreibt zur Rechtfertigung des autonomen Nachvollzugs in seiner Botschaft: „Wenn die Schweiz den Angemessenheitsbeschluss der Europäischen Union beibehalten will, tut sie als Drittstaat gut daran, ihre Gesetzgebung an die europäischen Anforderungen anzupassen.“

Diesen Satz wird der Bundesrat in Zukunft immer öfter schreiben können. In zahlreichen Bereichen ausserhalb der Bilateralen Verträge ist der autonome Nachvollzug bereits heute ständige Praxis, sei es auf Gesetzes- oder Verordnungsebene. Gegenwärtig hat die Schweiz vor der EU-Kommission gegen 30 Äquivalenzverfahren aus dem autonomen Nachvollzug pendent.Der digitale europäische Binnenmarkt wird die Entwicklung noch deutlich beschleunigen.

Interessant ist, dass die Schweizer Rechtsnationalen in ihrer Vernehmlassung vom 4. April 2017 verlangt haben, es sei auf jede Art von „Swiss Finish“ zu verzichten, d.h. sämtliche Bestimmungen, die weiter gehen als die jeweiligen internationalen Vorgaben, seien zu streichen. Sie fordern damit für die Schweiz eine unveränderte Übernahme des europäischen Binnenmarktrechts. Ein irritierender Standpunkt einer Partei mit einem ganz andern ideologischen Horizont.

Souveräne Fassade statt Mitgestaltung

Eine nüchterne Betrachtung führt zum Schluss, dass der aktuelle Mainstream der eidgenössischen Politik unter Führung des Bundesrates es vorzieht, öffentlich die „souveräne Fassade“ formeller eigener Gesetzgebung zu verteidigen und inhaltlich im Stillen Nachvollzug zu machen, statt in den europäischen Gremien an der europäischen Binnenmarkt-Gesetzgebung mitzuwirken und dort die schweizerischen Interessen wirksam zu verteidigen.

Bis das Volk merkt, dass da was faul ist im Staate Dänemark.

17.05.2018

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